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Vom Wissen zum Handeln - Wie schaffen wir gesellschaftliche Transformation?

Dialogforum am 8. April 2025, Munich Re, Saal Europe, Giselastraße 21

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    Seit ihrer Gründung vor 20 Jahren steht das Engagement der Münchener Rück Stiftung unter dem Motto „Vom Wissen zum Handeln“. In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und Krisen hat dieses Motto nicht an Aktualität verloren. Welche Hürden sind zu überwinden, um Wissen in konkretes Handeln für nachhaltige Veränderungen umzusetzen? Welche Instrumente stehen zur Verfügung, um die Transformation zu beschleunigen? Die Podiumsgäste des Jubiläums-Dialogforums gaben Antworten.
    Renate Bleich, Geschäftsführerin der Münchener Rück Stiftung, moderierte das Podium des Abends.

    Hürden auf dem Weg vom Wissen zum Handeln

    Wenn es um gesellschaftliche Transformation geht, besteht eine Hürde darin, dass Interessengruppen aufeinandertreffen, die zwar das gleiche Ziel verfolgen, aber unter unterschiedlichen Erfolgsbedingungen agieren. „In einer solch komplexen Situation sind alle Beteiligten nur so lange motiviert, Wissen in Handeln umzusetzen, wie sie nicht als Totalverlierer aus dem Prozess hervorgehen“, erklärte Armin Nassehi, Professor für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Erschwerend hinzu komme ein intellektuelles Selbstmissverständnis der Entscheidungsträger:innen. „Wir glauben, dass man den Menschen nur gute Gründe geben muss, damit sie handeln. Das ist empirisch nicht der Fall.“ Denn in der trägen Praxis des Alltags hätten disruptive Ideen, die das Leben verändern, wenig Chancen. Was sich einmal bewährt habe, sei unglaublich schwer, mit guten Gründen in Frage zu stellen.

    In Zeiten multipler Krisen, sei es die Pandemie oder die sogenannte Flüchtlingskrise, erweist sich diese Trägheit gesellschaftlicher Strukturen laut Nassehi als immer größeres Problem. Je stärker die Argumente der Expert:innen, desto größer die Zweifel in Teilen der Öffentlichkeit. Und je mehr die Eliten auf ihrer Sicht der Dinge beharren, desto größer wird bei manchen der Verdacht, dass hier etwas nicht stimmt. Hinzu komme, dass die Gesellschaft in unterschiedliche Handlungsfelder zerfalle. Für die einen stehe ökonomisches Handeln im Vordergrund, um auf dem Markt zu bestehen. Andere müssten politische Mehrheiten organisieren, um ihre eigenen Machtchancen zu verbessern. „Deshalb wünschen wir uns einen Masterplan, der die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft koordiniert. Das Hauptproblem unserer Gesellschaft ist, dass es diese Koordinationsstelle nicht gibt“, so Nassehi.

    Transformation erträglich gestalten

    Ein weiteres Problem: Transformation wird als Programm verstanden, mit dem man auf die Gesellschaft zugeht. „Das scheitert an der Realität, denn die Gesellschaft ist und hat keine Adresse, sie kann nicht aus einem Guss reagieren.“ Die Umsetzung von Wissen in Handeln funktioniere nicht, weil das angestrebte Ziel aufgrund unterschiedlicher Perspektiven und gesellschaftlicher Bereiche unterschiedliche Handlungsweisen erfordere. Hier komme ein weiteres intellektuelles Selbstmissverständnis ins Spiel: „Manches, was den einen aufgrund ihres Wissens als Notwendigkeit erscheint, ist für andere eine Zumutung. Das muss man ernst nehmen“, forderte Nassehi. Die Fehlentwicklungen in unserem politischen System, der Aufstieg des Populismus, seien ein Ausdruck davon. „Wenn es uns nicht gelingt, die Transformation aus Sicht der Endverbraucher erträglich zu gestalten, werden wir die Frage nach der Loyalität nicht beantworten können.“
    Zitat Prof. Armin Nassehi
    © Oliver Jung / Munich Re Foundation
    Manches, was den einen aufgrund ihres Wissens als Notwendigkeit erscheint, ist für andere eine Zumutung. Das muss man ernst nehmen.
    Prof. Armin Nassehi
    Soziologe & Gesellschaftstheoretiker an der LMU München
    Wie also können die Menschen motiviert werden, die notwendigen Veränderungen mitzutragen? „Zum einen brauchen wir eine verständliche Wissenschaftskommunikation, zum anderen mehr Interaktion mit den Menschen, um ihnen zu erklären, worum es geht“, schlug Prof. Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, vor. Die Folgen des Klimawandels und die Bedrohung unserer Lebensgrundlagen müssten in den Medien noch breiter dargestellt werden. Könnten positive Zukunftsvisionen helfen, den Menschen die klimabedingte Transformation schmackhaft zu machen? „Ich bin keine Freundin davon, alles blumig darzustellen“, bekannte Kemfert. Wir sollten das eine tun, ohne das andere zu lassen. Man müsse die Fakten auf den Tisch legen, ohne Angst und Schrecken zu verbreiten. Sonst fördere man Lethargie, Depression, Abwehrhaltung und Verschwörungstheorien. „Wie in jeder Therapie muss man sich jedoch den Tatsachen stellen, um Lösungen zu finden“, machte sie klar.
    Zitat Prof. Claudia Kemfert
    © Oliver Jung / Münchener Rück Stiftung
    Zum einen brauchen wir eine verständliche Wissenschaftskommunikation, zum anderen mehr Interaktion mit den Menschen, um ihnen zu erklären, worum es geht.
    Prof. Claudia Kemfert
    Energieökonomin am DIW Berlin

    Transformation durch Koordination

    Um Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zum gemeinsamen Handeln zu bewegen, setzt die Organisation ProjectTogether auf neue Koordinationsmechanismen. „Damit unterschiedliche Akteure zusammenwirken, brauchen wir breite Allianzen und eine Koalition der Willigen“, sagte Gründer und Geschäftsführer Philipp von der Wippel. Als Beispiel dient das Thema nachhaltige Ernährung in Großkantinen, ein großer Hebel für mehr Klimaschutz: „Sie geben in Deutschland 17 Millionen Mahlzeiten pro Arbeitstag aus und könnten mit dem wissenschaftlichen Standard der Planetary Health Diet sowohl die Gesundheit der Menschen als auch die der Erde schützen“, so von der Wippel. Kostengründe, mangelndes Wissen der Köch:innen und das Fehlen geeigneter Lieferunternehmen stünden dem jedoch entgegen. Abhilfe schafft eine Allianz für gute Esskultur. Sie besteht aus Kantinenbetreibern, Zulieferern, Ausbildungsbetrieben und Unternehmen als Kunden. Dieses Bündnis bringe die verschiedenen Gruppen zusammen, die alleine nicht zueinander finden würden.
    Zitat Philipp von der Wippel
    © Oliver Jung / Munich Re Foundation
    Damit unterschiedliche Akteure zusammenwirken, brauchen wir breite Allianzen und eine Koalition der Willigen.
    Philipp von der Wippel
    Gründer und Geschäftsführer der gemeinnützigen Organisation ProjectTogether
    Ein weiteres Handlungsfeld von ProjectTogether ist die Welcome Alliance, ein Bündnis aus zivilgesellschaftlichen Organisationen, Stiftungen, staatlichen Institutionen und Unternehmen. Ziel ist eine menschenwürdige, bedürfnisorientierte und nachhaltige Integration von Migrant:innen. Die Idee: Statt unterschiedlicher Ansprechpartner:innen für Wohnen, Arbeit oder Sprachkurse bieten Welcome Center alles aus einer Hand. „Das braucht Koordination. Kern unserer Arbeit ist es, in der Praxis zu lernen, wie diese Koordination am besten funktioniert und wo Kooperationen sinnvoll sind“, erläuterte von der Wippel.

    Strategien gegen Bremser

    Dreh- und Angelpunkt der gesellschaftlichen Transformation bleibe aber die Politik, die selbst oft nur zögerlich bei den notwendigen Veränderungen agiere. An mangelndem Wissen liege das nicht, so Kemfert. „Politiker sind oft sehr gut informiert. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es Pfadabhängigkeiten, wirtschaftliche Interessen oder Verflechtungen gibt und deshalb bestimmte Dinge nicht angegangen werden“, machte sie deutlich. Auch in der Bevölkerung sei vielen Menschen bewusst, dass an einer gesellschaftlichen Transformation etwa in Bezug auf den Klimawandel kein Weg vorbeiführe. „Aber es gibt Bremser, die Verschwörungstheorien verbreiten, mit Desinformationskampagnen gefüttert werden und damit die sozialen Netzwerke fluten. Dagegen brauchen wir neue Strategien“, ist Kemfert überzeugt. Sie denkt dabei an schlagkräftige Informationskampagnen, die vielleicht nicht die Klimaskeptiker:innen, aber die große schweigende Mehrheit der Menschen erreichen. „Politik und Wissenschaft, die beide unter Beschuss stehen, müssen dagegenhalten und sich vernetzen, um sich gemeinsam zu wehren.“

    „Wir müssen aufpassen, dass die Kluft zwischen den erwartungsschürenden Ankündigungen der Politik und dem konkreten Handeln nicht zu groß wird“, ergänzte von der Wippel. Sonst werde auch die so genannte Mitte der Bevölkerung anfälliger für Verschwörungstheorien. „Meiner Meinung nach sollte jedes Gesetz von einem konsequenten Umsetzungsprozess begleitet werden, der die Aufgaben der Akteure auf den verschiedenen Ebenen genau definiert.“

    Bürokratische Prozesse vereinfachen

    Könnte Bürokratieabbau helfen, Transformationsprozesse zu beschleunigen? Nassehi zeigte sich skeptisch. „Bürokratie ist kein Selbstzweck, sondern erfüllt eine wichtige zivilisatorische Funktion in unserer Gesellschaft.“ Denn nur rechtlich verbindliche Regelungen würden es ermöglichen, dass jeder ohne Ansehen der Person Ansprüche geltend machen könne. Über die Vereinfachung von Prozessen müsse jedoch nachgedacht werden, etwa wenn es darum gehe, den Kontakt zwischen Bürger:innen und Kommune auf weniger Plattformen gleichzeitig stattfinden zu lassen. Auch zur Disruption als Beschleuniger von Transformationsprozessen hat Nassehi eine klare Meinung: „Das ist ein ideologisches Konzept, bei dem die Akteure erst später über die Folgen und die damit verbundenen Kosten nachdenken“, kritisierte er. Nachhaltiger Wandel, das habe die Geschichte gezeigt, vollziehe sich eher in evolutionären Prozessen.

    Gesellschaftliche Transformation ist angesichts multipler Krisen zweifellos eine Notwendigkeit. Sie wird unser Leben enorm verändern, uns viel abverlangen und viele Menschen verunsichern. Klar ist aber auch, dass es in unserer komplexen und dynamischen Welt weder exakte Anleitungen noch Garantien für erfolgreiche Veränderungsprozesse gibt. Umso wichtiger ist es, den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Blick zu behalten und die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen.

    Rückblick auf 20 Jahre Stiftungsarbeit

    Zu Beginn des Dialogforums blickte die Vorsitzende des Stiftungsrats, Dr. Doris Höpke, zurück auf 20 Jahre Stiftungsarbeit. Über großes Wissen zu verfügen ist zugleich Verpflichtung, es zu teilen und in verantwortungsvolles Handeln umzusetzen. Dieser Gedanke stand bei der Gründung der Münchener Rück Stiftung im Vordergrund. „Munich Re verfügt über großes Wissen über Risiken und Katastrophenvorsorge. Ziel der Stiftung ist es, dieses Wissen für Menschen im Risiko, die sich nicht aus eigener Kraft schützen können, zu nutzen, um ihre Lebensgrundlagen zu verbessern“, erläuterte Höpke.
    Keynote von Dr. Doris Höpke
    © Oliver Jung / Munich Re Foundation
    Munich Re verfügt über großes Wissen über Risiken und Katastrophenvorsorge. Ziel der Stiftung ist es, dieses Wissen für Menschen im Risiko, die sich nicht aus eigener Kraft schützen können, zu nutzen, um ihre Lebensgrundlagen zu verbessern.
    Dr. Doris Höpke
    Vorsitzende des Stiftungsrats der Münchener Rück Stiftung
    Von Anfang an ging es um konkretes Handeln, wie bei den Nebelnetzen in Eritrea oder dem Flutwarnsystem in Mosambik. Wissensvermittlung und Vernetzung waren weitere Säulen der Stiftungsarbeit, die zur Gründung des Lehrstuhls für Soziale Verwundbarkeit an der UN-Universität in Bonn führten. Und es wurde die erste Mikroversicherungskonferenz (heute: International Conference on Inclusive Insurance) ins Leben gerufen, die sich zu einer weltweit anerkannten Plattform für Wissensaustausch und Vernetzung entwickelt hat. „Vieles von dem, was am Anfang stand, hat sich bewährt und wurde durch Leuchtturmprojekte wie den RISK Award ergänzt“, so Höpke. Wie bei anderen Projekten sei der Erfolg des Awards nicht zuletzt dem Aufbau von Partnerschaften zu verdanken, wobei die wichtigste Partnerin für die Stiftung nach wie vor Munich Re als Gründungsstifterin sei. Sie stellt ihr Wissen sozusagen als Dauerspende zur Verfügung. Höpke machte deutlich: „Die Herausforderungen und Hürden wachsen, aber auch unser Wissen. Insofern bin ich zuversichtlich für die künftige Arbeit der Stiftung.“
    Videoaufnahme des Dialogforums (Podiumsdiskussion)
    Munich Re Foundation
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    Agenda

    Begrüßung und Keynote zum Stiftungsjubiläum

    Dr. Doris Höpke
    Vorsitzende des Stiftungsrats der Münchener Rück Stiftung

    Podium

    Prof. Claudia Kemfert
    Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW Berlin

    Prof. Armin Nassehi 
    Professor für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München

    Philipp von der Wippel
    Gründer und Geschäftsführer der gemeinnützigen Organisation ProjectTogether

    Moderation

    Renate Bleich
    Geschäftsführerin, Münchener Rück Stiftung 

    Dialogue Forum Audience
    © Munich Re Foundation / Oliver Jung