Viren und Bakterien – seit Jahrtausenden eine weltweite Bedrohung
Dialogforum am 26. Januar 2021
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Gut ein Jahr nach den ersten COVID-19-Erkrankungen hält die Corona-Pandemie die Welt fest im Griff. Doch im Gegensatz zu früher, als Pest, Cholera und Pocken wüteten, können wir das Virus stoppen, sofern wir eine klare Strategie verfolgen. Das fordert allerdings dem einzelnen Individuum und der Gesellschaft als Ganzes viel ab, wie die Experten auf dem ersten Dialogforum 2021 der Reihe „Kleine Dinge, große Wirkung“ deutlich machten.
Auch wenn man die aktuelle Pandemie nicht eins zu eins mit historischen Seuchen vergleichen kann, ist ein Blick in die Geschichte nützlich. „Bei der spanischen Grippe, die 1918 ausbrach, kam es ebenfalls zu einem Lockdown, nicht staatlich verordnet, sondern weil Telefonistinnen, Straßenbahnfahrer oder Lehrer erkrankten und dadurch das öffentliche Leben lahmgelegt wurde“, erläuterte Prof. Philipp Osten, Direktor des Medizinhistorischen Museums in Hamburg. Auch die Tendenz, einen Schuldigen für die Krankheit finden zu wollen, sei nichts Neues. „Während manch einer bei COVID-19 vom chinesischen Virus spricht, reagierten die Menschen früher oftmals mit antisemitischen Übergriffen und Pogromen“, beklagte der Medizinhistoriker.
Das Virus ist da und entfaltet seine zerstörerische Kraft, aber wir müssen nicht mit ihm leben, auch wenn wir es nicht ausrotten können.
Das Virus lässt sich bekämpfen
Der große Vorteil heute: „Wir sind schlauer als das Virus“, ist die Infektionsbiologin Prof. Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung überzeugt. „Das Virus ist da und entfaltet seine zerstörerische Kraft, aber wir müssen nicht mit ihm leben, auch wenn wir es nicht ausrotten können.“ Denn es braucht menschliche Kontakte, um sich zu verbreiten. Allerdings erfordert das ein konsequentes Vorgehen. „Im Frühjahr 2020 konnten wir das Virus durch schnelle Reaktion zurückdrängen. Doch danach haben wir uns auf dem Erfolg ausgeruht und die Warnungen der Wissenschaft in den Wind geschlagen“, bedauert Brinkmann.
Die Folge: Ein Jahr nach Beginn der Pandemie ist das Infektionsgeschehen außer Kontrolle geraten. Solange kein flächendeckender Impfschutz besteht, bleibt nur die Möglichkeit, die sozialen Kontakte so weit wie möglich zu beschränken. Brinkmann strebt an, die Neuinfektionen auf nahe Null zu drücken. Von diesem Niveau aus könne man das Infektionsgeschehen gut kontrollieren, was bei einer Inzidenz von 50 nicht gegeben sei. „Wir müssen noch härtere Maßnahmen ergreifen, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten“, ist sie überzeugt.
Menschen halten sich nicht an Skripte
Ob wir tatsächlich schlauer als das Virus sind, ist nach Ansicht des Soziologen Prof. Armin Nassehi von der Ludwig-Maximilians-Universität eine offene Frage. Es hänge davon ab, ob man die Gesellschaft so steuern könne, dass sie sich entsprechend der Modellvorgaben verhält. „Soziologisch betrachtet ist die moderne Gesellschaft aber keine Organisation, in der sich die Menschen genau an die Skripte halten. Wir wissen aus der Verhaltensforschung, dass das, was wir tun, nicht unbedingt vom Verstand geprägt ist, sondern von dem, was im Alltag funktioniert“, gab er zu bedenken. Er zeigte sich skeptisch, dass sich die Zahl der Neuinfektionen auf null drücken lasse.
Soziologisch betrachtet ist die moderne Gesellschaft aber keine Organisation, in der sich die Menschen genau an die Skripte halten. Wir wissen aus der Verhaltensforschung, dass das, was wir tun, nicht unbedingt vom Verstand geprägt ist, sondern von dem, was im Alltag funktioniert.
Unsere Gesellschaft sei kaum in der Lage, lang- oder mittelfristige Ziele zu erreichen, sondern versuche, die gegenwärtigen Zielkonflikte zu lösen. So müsse man sich beispielsweise entscheiden zwischen Kontrolle und Freiheit oder zwischen medizinischen und ökonomischen Notwendigkeiten. „Deshalb brauchen wir eine Strategie, die über nächsten drei Wochen hinausreicht und die eine positive Zukunft aufzeigt“, forderte er. Gleichzeitig müsse man aber die Spannung aufrechterhalten, um zu vermeiden, dass sinkende Infektionszahlen die Menschen zur Nachlässigkeit verleiten.
„Wir brauchen Erfolge, um die Menschen positiv zu stimmen“, ist auch Brinkmann überzeugt. Dass das Virus beherrschbar ist, hätten andere Länder bewiesen. Sie plädiert für eine proaktive Strategie, die das Infektionsgeschehen deutlich senkt, so dass Regionen mit niedrigen Fallzahlen den Lockdown beenden können. „Das erlaubt der Gesellschaft, wieder freier zu leben.“ Eine solch positive Perspektive vermisst die Infektionsbiologin in der momentanen Diskussion, die die Menschen immer nur mit neuen Verboten und schärferen Maßnahmen konfrontiert.
Koalition aus Wissenschaftlern
Dabei gibt es durchaus Entwicklungen, die hoffnungsvoll stimmen. „Beim Aidsvirus HIV dauerte es mehrere Jahre, bis das Genom entschlüsselt war und erste Tests zur Verfügung standen“, erinnert der Medizinhistoriker Osten. Für COVID-19 hingegen war innerhalb weniger Wochen der PCR-Test verfügbar. Auch die Impfstoffentwicklung in weniger als einem Jahr ist ein enormer Erfolg. „Das war nur möglich, weil wir bestimmte Plattformen am Start hatten, auf denen die Wissenschaftler aufbauen konnten“, machte Brinkmann klar. Denn das COVID-19-Virus ist eng verwandt mit dem SARS-Corona-Virus aus dem Jahr 2003, das sich damals ebenfalls über die ganze Welt verbreitet hat. Seit 2017, so die Infektionsbiologin, bestehe eine weltweite Koalition aus Wissenschaftlern, die sich mit neuen Erregern befasst. Die Erkenntnisse daraus fließen in die nationalen Pandemiepläne ein, wie etwa in die vom Robert Koch Institut erstellten Richtlinien.
Dass Pandemien jederzeit auftreten können, daran lässt die Wissenschaft keinen Zweifel. „Es hängt viel an der Lebensweise der Menschen, mit welchen Erregern wir es zu tun bekommen und wie sie sich verbreiten“, verdeutlichte Nassehi. „Wir wissen bereits seit langem, dass von den vermutet ungefähr 300.000 Viren im Tierreich einige auf den Menschen überspringen können“, ergänzte Osten. Um das möglichst zu vermeiden, wurde das Konzept „One Health“ (eine Gesundheit) entwickelt. Es besagt, dass die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt eng miteinander verbunden und voneinander abhängig ist. So rücken Tiere, wenn sie aufgrund von Eingriffen des Menschen in das Ökosystem ihre Lebensgrundlage verlieren, räumlich näher an uns heran. Durch den engeren Kontakt können dann Virusmutationen auf den Menschen überspringen und eine neue Pandemie auslösen.
Beim Aidsvirus HIV dauerte es mehrere Jahre, bis das Genom entschlüsselt war und erste Tests zur Verfügung standen.
Virus findet Schlupflöcher
Auch die jüngst aufgetretenen Mutationen des COVID-19-Virus bereiten den Experten Sorgen. „Es haben sich Varianten gebildet, die biologisch fitter sind und sich leichter verbreiten“, erklärte Brinkmann. Das passiere umso eher, je stärker das Virus zirkuliert. Und solange der Schutzschild durch den Impfstoff nicht komplett ist, kann das Virus immer wieder ein Schlupfloch finden. „Wenn wir nicht in eine Situation geraten wollen, in der ein Impfstoff nicht mehr wirkt, dürfen wir das Virus nicht an der langen Leine lassen“, lautet daher ihre Empfehlung.
„Außer in Kriegszeiten fällt es den modernen Gesellschaften schwer, Steuerungsformen aus einem Guss zu schmieden“, machte Nassehi deutlich. Wenn man etwas aus der COVID-19-Pandemie lernen wolle, dann, dass man Instanzen entwickeln müsse, die interdisziplinär mit einer Stimme sprechen. Es gehe darum, die Interessen aus so unterschiedlichen Bereichen wie Wissenschaft, Bildung, Kultur, Ökonomie und Politik in Einklang zu bringen. Dann wäre man gerüstet, mit vereinten Kräften gegen die nächste Pandemie anzukämpfen. Bleibt nur zu hoffen, dass es wie bei spanischen Grippe mindestens wieder ein Jahrhundert braucht, bis das nächste Virus zuschlägt.
Das nächste Dialogforum findet am 11. Februar 2021 zum Thema „Mikroplastik – klein, schädlich und überall“ statt.
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29. Januar 2021